FLÜCHTLINGSPOLITIK 1933 - 1945 |
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Die Schweiz hat eine lange Tradition, Flüchtlinge aufzunehmen. Erinnert sei hier nur an die Hugenotten, an Liberale, Sozialisten und Anarchisten aus Westeuropa im 19. Jahrhundert und russische Kommunisten (u.a. Lenin) vor der Oktoberrevolution 1917. Bis dahin handelte es sich aber immer um Einzelpersonen oder kleinere Gruppen. Im Fall der Hugenotten bestanden zudem enge Beziehungen zur Führungsschicht derjenigen Kantone, die sie aufnahmen.
Nach der Machtergreifung der Nazis in Deutschland flohen bis zum Herbst 1933 rund 2000 Flüchtlinge (vorwiegend Juden und Intellektuelle) aus Deutschland in die Schweiz, Ende 1938 waren es bereits 10'000. Bis zum Waffenstillstand am 8. Mai 1945 stieg die Zahl der Flüchtlinge auf 115'000, wovon rund 50'000-60'000 internierte Soldaten, die von den feindlichen Truppen an die Grenze abgedrängt worden waren (anfänglich polnische und französische, gegen Kriegsende deutsche und österreichische). Insgesamt beherbergte die Schweiz 295'381 Flüchtlinge (wovon 103'689 Internierte, 55'018 erwachsene, darunter viele jüdische Zivilflüchtlinge, 59'785 Kinder in befristeten Erholungsaufenthalten und 66'549 so genannte Grenzflüchtlinge, die sich nur kurz in der Schweiz aufhielten). (Chronik, S. 544, vgl. übereinstimmend Unabhängige Expertenkommission (UEK), Schlussbericht, S. 118f)
An einer internationalen Flüchtlingskonferenz in Evian (auf der französischen Seite des Genfersees) stand 1938 "nicht das Schicksal der Verfolgten, sondern die Gefährdung der potentiellen Aufnahmeländer durch die Massenvertreibung im Vordergrund" (UEK, Schlussbericht, S. 54), sie verlief ohne konkretes Ergebnis. ("Chronik der Schweiz", S. 532) "Statt dessen schränkten zahlreiche Staaten die Zulassung [von Flüchtlingen] weiter ein." (UEK, Schlussbericht, S. 110)
Rückblickend kann man festhalten, dass damals die internationale Staatengemeinschaft und insbesondere die USA es verpasst haben, sich ernsthaft für die Flüchtlinge einzusetzen und z.B. als Zweitaufnahmeländer die Schweiz zu entlasten - ganz abgesehen davon, dass nur ein aussereuropäisches Land (USA!) wirksamen Schutz vor dem Zugriff des skrupellos gewalttätigen Nazi-Regimes hätte bieten können. Die Schweiz war - gemessen an der Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge pro Einwohner - durchaus in der Spitzengruppe anzutreffen, nur genügte das angesichts der ungeheuerlichen Barbarei des Nazi-Regimes eben nicht.
Die Flüchtlingspolitik der Schweiz vor und während des 2. Weltkriegs wurde massgeblich geprägt von Heinrich Rothmund (Chef der Polizeiabteilung des EJPD = Fremdenpolizei, 1919 - 1955 im Amt, altershalber zurückgetreten) und seinem Vorgesetzten Bundesrat Eduard Steiger (BGB, Vorgängerpartei der SVP).
Das EJPD [Eidgenössische Justiz- und Polizei - Departement] hatte erstens
"seit dem Ersten Weltkrieg die ideologischen und rechtlichen
Grundlagen der schweizerischen Bevölkerungspolitik ausgearbeitet und in der Zwischenkriegszeit
eine antisemitsch geprägte Ausländerpolitik durchgesetzt. Für die theoretische Fundierung
der Bevölkerungspolitik war allerdings weniger Heinrich Rothmund als vielmehr der damals
renommierte, bislang aber wenig beachtete Jurist Max Ruth von zentraler Bedeutung.
Zweitens trug das Departement nach Kriegsbeginn für den Vollzug der Flüchtlingspolitik die
zentrale Veranwortung, weil es von 1938 bis 1942 zu einer Verlagerung der Kompetenzen von
den Kantonen zu den Bundesbehörden kam. Mit seinen zahlreichen Weisungen und
Kreisschreiben bestimmte das EJPD weitgehend die Praxis der Flüchtlingspolitik, und
letztinstanzlich entschied die Polizeiabteilung - oftmals Heinrich Rothmund persönlich -
über die Aufnahme und Wegweisung von ... Flüchtlingen. Es ist bekannt, dass im EJPD
starke fremdenfeindliche und antisemitische Tendenzen herrschten und die Polizeiabteilung
ihre Kräfte auf die Abwehr der Flüchtlinge konzentrierte."
(UEK, Schlussbericht, S. 133)
Massgeblich mit beteiligt war aber auch das Politische Departement
(Aussenministerium) unter Bundesrat Giuseppe Motta
(Katholische Konservative Partei KK = heute CVP).
Seit 1937 verschärften die Nazis ihre antijüdischen Schikanen deutlich, nach dem Anschluss ans Deutsche Reich im März 1938 flohen über 100'000 Juden aus Österreich, rund 6'000 davon in die Schweiz. Im April 1938 verlangte die Schweiz von Deutschland Massnahmen, um die Flüchtlingsströme besser kontrollieren zu können. Die Verhandlungen zogen sich über den ganzen Sommer 1938 dahin. Die deutsche Seite schlug den "J"-Stempel vor. Rothmund erkannte zwar "den diskriminierenden und rechtlich fragwürdigen Charakter" der Massnahme und wollte stattdessen einen allgemeinen Visumszwang, weil er eine effiziente Kontrolle aller Deutschen wünschte. Doch Bundesrat Giuseppe Motta (KK = heutige CVP, Aussenminister) hielt dagegen fest: «Der Bundesrat heisst das Abkommen mit Deutschland einstimmig gut. ... Herr Rothmund kann sich seiner kleinen Skrupel, die ihn noch quälen, also geruht entledigen.» (UEK, Schlussbericht, S. 111) Durch eine Verordnung des deutschen Nazi-Regimes wurden am 5. Oktober 1938 die Reisepässe deutscher (und österreichischer) Juden für ungültig erklärt, eingezogen und mit einem roten "J"-Stempel (sogenannter Judenstempel) gekennzeichnet.
Darüber, wer diese unselige, diskriminierende
Idee hatte, tobt noch immer ein heftiger Meinungsstreit, der auch im Internet ausgetragen wird.
Dabei könnte man sich getrost auf wenige, wirklich wichtige Tatsachen beschränken:
«Aus dem von Heinrich Rothmund verfassten
Schlussbericht über die diesbezüglichen Verhandlungen vom 1. Oktober 1938 - dieses Dokument ist seit
1994 veröffentlicht - geht weiter hervor, welche Ziele die schweizerische Delegation damals anstrebte:
"Wichtig war nur zu erreichen, dass sobald wie möglich der heutige Zustand aus der Welt geschafft
werden kann, wo die schweizerischen Passkontrollorgane an der Grenze prüfen müssen, ob der Inhaber eines
deutschen Passes Arier oder Nichtarier sei."
("Diplomatische Dokumente der Schweiz", Band 12, S. 935).
»
(Antwort des Bundesrates auf die parlamentarische Anfrage 98.3447 von Ständerat
Maximilian Reimann vom 7. 10. 1998)
Dieser amtlichen Klarstellung gibt es nichts hinzu zu fügen.
Eine andere Stelle belegt ebenso deutlich die schweizerischen Bemühungen:
"Es wurde deshalb der deutschen
Delegation beantragt, nach einem Mittel zu suchen, um die bereits ausgegebenen Pässe der im Ausland,
namentlich in Italien, sich aufhaltenden deutschen Nichtarier ebenfalls so rasch wie möglich mit dem genannten
Kennzeichen zu versehen."
("Diplomatische Dokumente der Schweiz", Band 12, S. 935)
Diese historischen Fakten belegen, dass die damalige Schweizer Regierung mit Bezug auf die Einführung des
"J-Stempels" eine Mitverantwortung trifft, auch wenn die Bundesbehörden den Stempel nicht
erfanden. Dafür hat sich am 8. Mai 1995 Bundespräsident Villiger im Namen des Bundesrates entschuldigt,
im Wissen darum, dass solches Versagen letztlich unentschuldbar ist.
Trotz z.T. brutaler Durchsetzung der Abwehrmassnahmen gelangten mehrere Tausend österreichische Juden in die Schweiz. "Viele hatten dies dem St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger zu verdanken, der bis Anfang 1939 Hunderte von Personen entgegen den geltenden Bestimmungen einreisen liess. Im Frühling 1939 wurde er entlassen und Ende 1940 vom St. Galler Bezirksgericht wegen Amtspflichtverletzung und Urkundenfälschung verurteilt. Erst 1993, lange nach seinem Tod, wurde er, nachdem die St. Galler Kantonsregierung seit den sechziger Jahren mehrere Rehabilitierungsversuche abgewiesen hatte, politisch und 1995 vom St. Galler Bezirksgericht auch juristisch rehabilitiert" (UEK, Schlussbericht, S. 109) In diesem Fall bedeutet die Rehabilitierung nicht wie in gelegentlichen anderen Fällen die Korrektur eines unsorgfältig gefällten Fehlentscheides des Gerichtes (etwa aufgrund neuer Beweismittel), sondern eine Anerkennung der Tatsache, dass die damalige schweizerische Flüchtlingsgesetzgebung mit den Prinzipien eines Rechtsstaates nicht vereinbar war.
Im Januar 1942 ernannte der Bundesrat den Diplomaten Edouard de Haller zum "Delegierten des Bundesrates für internationale Hilfswerke". In dieser Koordinationsfunktion behinderte de Haller die Hilfswerke allerdings eher im Sinn der abweisenden offiziellen Flüchtlingspolitik. (UEK, Schlussbericht, S. 134f)
Ab Frühjahr 1942 wurden Juden von deutschen Spezialeinheiten zu Tausenden nach Osten deportiert, ab Mai begann die Massenvernichtung in Auschwitz [Holocaust]. Am 16. Juli wurden über 13'000 französische Juden in Paris verhaftet und deportiert. Ende Juli erstattete Robert Jezler (Stellvertreter Rothmunds) dem Bundesrat Bericht:
«Die übereinstimmenden und zuverlässigen Berichte über die Art und Weise, wie die Deportationen durchgeführt werden, und über die Zustände in den Judenbezirken im Osten sind derart grässlich, dass man die verzweifelten Versuche der Flüchtlinge, solchem Schicksal zu entrinnen, verstehen muss und eine Rückweisung kaum mehr verantworten kann.» Dennoch betonte er, man dürfe in der heutigen Kriegszeit, in der auch die Schweiz in gewissem Sinn um ihre Existenz kämpfen müsse, «nicht zimperlich» sein, und empfahl, bei der Aufnahme von Flüchtlingen in Zukunft «grosse Zurückhaltung» zu üben.
(UEK, Schlussbericht, S. 115, übereinstimmend, aber gekürzt Chronik, a.a.O., S. 540)
Die Schweizer Behörden reagierten auf die klar verschärfte Bedrohung für jüdische Flüchtlinge nun aber nicht etwa mit einer Lockerung der Flüchtlingspolitik, ganz im Gegenteil: Am 13. August 1942 erliess Polizeichef Heinrich Rothmund in Abwesenheit von Bundesrat Eduard von Steiger eine totale Grenzsperre für Flüchtlinge. Die Massnahme wurde in der Öffentlichkeit sofort heftig kritisiert. Nach einem persönlichen Appell der "Flüchtlingsmutter" Gertrud Kurz (Leiterin des Christlichen Friedensdienstes) ordnete Bundesrat Eduard von Steiger am 24. August aus den Ferien die Lockerung der Sperre an (Chronik, a.a.O., S. 540)
Am 30. August fand in Zürich-Oerlikon eine von mehreren Tausend Menschen besuchte Landsgemeinde der "Jungen Kirche" [Jugendorganisation der reformierten Landeskirche] statt, auf der Bundesrat von Steiger u.a. von Max Wolff, dem Präsidenten der zürcherischen Kirchensynode, kritisiert wurde, "die Kirche lehne sich dagegen auf, »wenn man von ihr im Namen der Neutralität fordert, dass sie zu schwerstem Unrecht, das in der Welt geschieht, schweige, dass sie gleichgültig oder angstvoll zusehe, wenn [man] Völker und Rassen vergewaltigt ... [und] alles verhöhnt und zerschlagen wird, was auch die tragenden Fundamente der Schweiz bildet.«" (ebda., S. 541)
Von Steiger rechtfertigte sich u.a. wie folgt:
»Unter Umständen muss man sogar hart und unnachgiebig scheinen, muss
Vorwürfe, Beschimpfungen und Verleumdungen ertragen und trotzdem widerstehen können
und nicht umfallen ... Wer ein schon stark besetztes kleines Rettungsboot mit beschränktem
Fassungsvermögen und ebenso beschränkten Vorräten zu kommandieren hat, indessen
Tausende von Opfern einer Schiffskatastrophe nach Rettung schreien, muss hart scheinen,
wenn er nicht alle aufnehmen kann. Und doch ist er noch menschlich, wenn er beizeiten vor
falschen Hoffnungen warnt und wenigstens die schon Aufgenommenen zu retten sucht ...«
(ebda., S. 541)
Am 22./23. September wurde die Asylpolitik des Bundesrates im Parlament zwar
von einzelnen Volksvertretern (Ludwig Rittmeyer, FDP, SG; Albert Oeri, liberal, BS sowie
Paul Graber, SP, NE unterstützt von den meisten Sozialdemokraten) heftig kritisiert,
die bürgerliche Mehrheit billigte sie jedoch.
(UEK, Schlussbericht, S. 138)
Darauf verschärfte die Regierung die Aufnahmepraxis wieder.
(Chronik, a.a.O., S. 541)
Die Kirchen verhielten sich uneinheitlich. Die meisten offiziellen Repräsentanten billigten die Politik der Regierung stillschweigend oder sogar ausdrücklich. Kritik kam von engagierten Einzelpersonen, die insgesamt eher am Rande der Volkskirchen standen und für ihre mutige Haltung auch innerkirchlich kritisiert wurden. (UEK, Schlussbericht, S. 141ff) Die Einstellung der Bevölkerung "lässt sich heute kaum mehr zuverlässig einschätzen. Allerdings sprechen die jahrelange finanzielle Unterstützung der Hilfswerke, die Fluchthilfe an der Grenze sowie die Bereitschaft, sich in Hilfaktionen wie der Beherbergung von Kindern oder der von Pfarrer Paul Vogt initiierten Freiplatzaktion zu engagieren, doch sehr dafür, dass in einem Teil der Bevölkerung eine ganz beachtliche Hilfsbereitschaft bestand." (UEK, Schlussbericht, S. 149)
Ein Student sah schon damals im Oktober 1942 voraus, in welche Schwierigkeiten die Einschränkung des Asylrechts und insbesondere die praktische Verweigerung des Asyls für Juden die Schweiz nach dem Krieg bringen würde:
«Wir haben volles Verständnis für die furchtbar schwere Aufgabe unserer Behörden. Aber wir Jungen haben das Recht zu fordern, dass heute in dieser Sache so gehandelt wird (und zwar bewusst und eindeutig und nicht nur um die Volksstimmung etwas zu besänftigen!), dass es nicht später einmal heissen kann: die Schweizer und ihre Bundesräte haben immer sehr viel und sehr schön von ihren Idealen und Traditionen, von der Menschlichkeit im Wesen des Kleinstaates usw. geredet, aber als es dann darauf ankam, als ihnen wirklich eine grosse, unerwartete Aufgabe reiner, unrentabler Menschlichkeit zufiel, da haben sie versagt, da haben sie sich im Schneckenhäuslein ihrer <Staatsraison> nicht von solchen unerwünschten Zwischenfällen derangieren lassen wollen. Wir können und müssen heute auf mancherlei Rechte verzichten, aber von dem Recht und der Pflicht zur Menschlichkeit können und dürfen wir uns nicht dispensieren, denn nachher, wenn es wieder leichter, billiger und weniger riskant sein wird, menschlich zu sein, ist es dazu dann eben zu spät.»
(zitiert nach: Ulrich Im Hof: Mythos Schweiz)
Um den russischen Vormarsch zu stoppen, besetzten deutsche Truppen am 19. März 1944 das bis dahin mit Deutschland verbündete Ungarn. Zwischen dem 15. Mai und dem 8. Juli 1944 wurden 476'000 Juden aus Ungarn ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. (Roth Heinrich und Weiss Josef, Zweiter Weltkrieg, 2. Teil , S. 29) Am 12. Juli 1944 trafen in Bern Nachrichten aus Ungarn ein, wonach alle Juden in Ungarn mit dem Tod bedroht seien. (Chronik, a.a.O., S. 542) Die Schweiz revidierte ihre Flüchtlingspolitik am 12. Juli 1944, als es bereits zu spät war. (Roth Heinrich und Weiss Josef, a.a.O., S. 29) Am 12. Juli 1944 erliess das EJPD neue Weisungen über die Aufnahme von Flüchtlingen. Juden wurden darin von den Behörden erstmals als allgemein gefährdet eingestuft und - unabhängig von speziellen persönlichen Asylgründen - als Flüchtlinge anerkannt. Damit reagierte man auf einen Bericht aus der Botschaft in Budapest, dass alle Juden in Ungarn vom Tod bedroht seien
1970 urteilte Prof. Edgar Bonjour:
«Die ganze damalige Generation hat versagt und ist mitschuldig. Denn in
einer direkten Demokratie wie der schweizerischen wäre das Volk, wenn es sich richtig
aufgerafft hätte, durchaus nicht gezwungen gewesen, den ihm unleidigen Kurs der Regierung
während zehn Jahren passiv zu ertragen. ... Der in jedem Bürger steckende Egoist und latente
Antisemit liess ihn die Augen vor der Unmenschlichkeit gewisser Aspekte der behördlichen
Asylpolitik verschliessen.»
(Bonjour Edgar, Neutralität, Bd. VI, 1970, S. 41, zitiert nach
UEK, Schlussbericht, S. 131)
Dagegen wandte die Bergier - Kommission ein:
"Beide Erklärungsversuche - hier die isolierte Verantwortung des EJPD,
dort die kollektive Verantwortung der Schweizer Bevölkerung - greifen zu kurz.
Die Feststellung von Verantwortung muss das Gefälle von Entscheidungskompetenz,
Informationsstand sowie sozialer und politischer Macht, das die verschiedenen Akteure
unterschied, berücksichtigen."
(UEK, Schlussbericht, S. 131f)
Zu beachten ist, dass die meisten Staaten auf dem europäischen Festland von deutschen oder mit ihnen verbündeten Truppen besetzt waren und aus all diesen Ländern insgesamt rund 6 Millionen Juden in die Vernichtungslager der Nazis verschleppt wurden. Bei einer eigenen Bevölkerung von 4 Millionen hätte die isolierte Schweiz zwar niemals alle von den Nazis verfolgten Personen aufnehmen können, wohl aber die rund 20'000 - 25'000 Flüchtlinge, die bis zur Schweizer Grenze gelangten und dort in den praktisch sicheren Tod zurückgeschickt wurden. (UEK, Schlussbericht, S. 120) Diese hätten die Zahl der Flüchtlinge nur um rund 10%, die der Gesamtbevölkerung um lediglich 0,6% erhöht!
Bis 1940 wäre eine Weiterreise der zivilen Flüchtlinge auf dem Land- und Seeweg in die USA oder nach Kanada noch problemlos möglich gewesen, nachher hätte man sie allenfalls über eine Luftbrücke in Sicherheit bringen können. Bisher konnte ich allerdings in keiner Quelle von einem entsprechenden Angebot der USA etwas lesen, ganz im Gegenteil: "Eine Aufnahme von 20 000 jüdischen Kindern ... wurde zu Beginn des Jahres 1939 vom Kongress abgelehnt, und einige Monate später wurde den unglücklichen Passagieren der «St. Louis» die Landeerlaubnis ... verweigert. Mit Kriegsbeginn ... wurde die Visaerteilung für die in Europa blockierten jüdischen Flüchtlinge immer restriktiver: Nachdem 1939 noch über 30 000 Visa abgegeben worden waren, fiel die Zahl 1941 auf etwa 4000. ... Insgesamt nahmen die USA von 1933 bis 1945 etwa 250 000 jüdische Flüchtlinge auf. " (UEK, Schlussbericht, S. 171) Angesichts der Grösse des Landes, der Tradition als Einwanderungs- und Nahrungmittelexportland und der fehlenden militärischen Bedrohung des Kernlandes kann diese Quote von 1 Promille der heutigen Bevölkerung im Vergleich mit den von der Schweiz aufgenommenen 55'000 erwachsenen Zivilflüchtlingen (8 Promille der heutigen Bevölkerung, dazu nochmals doppelt so viele internierte Soldaten) nur als schäbig bezeichnet werden. Sogar Stuart Eizenstat, Ex-Unterstaatssekretär der USA, kritisiert in seinem aktuellen Buch "Imperfect Justice" "Amerika, das während des Zweiten Weltkrieges «weniger Flüchtlinge ins Land gelassen habe als die winzige Schweiz»." (Nach der Buchrezension der "Neuen Luzerner Zeitung", Ausgabe vom 20. 12. 2002, S. 5)
"Das Internationale Komittee vom Roten Kreuz
(IKRK)
wird, obwohl es keinen Regierungsstatus hat, sondern eine völkerrechtliche
Funktion im Dienst der internationalen Staatenwelt übernimmt, gerne als
Aktivposten der schweizerischen Stellung in der Welt gesehen. Die
Leistungen des IKRK gerade auch nach dem Krieg (Betreuung von
Kriegsgefangenen, Infozentrale für Angehörige) müssen auch anerkannt
werden.
Überlegungen
der Staatsräson veranlassten das IKRK allerdings zu einer passiven Haltung
angesichts der deutschen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der
Kriegsjahre. Nachräglich, 1989, erkannte das IKRK an, dass es moralisch
verpflichtet gewesen wäre, sich um die Juden in Deutschlands Machtbereich
und überhaupt um die Bewohner der annektierten Gebiete zu kümmern; zugleich
wies es aber darauf hin, dass der Schutz der Zivilbevölkerung erst mit dem
IV. Genfer Abkommen von 1949 völkerrechtlich vereinbart worden sei."
(UEK, Schlussbericht, S. 69)
Auch hier hinkte offensichtlich das Völkerrecht hinter der Realität hinterher.
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